Das wichtigste Gremium der evangelischen Kirche

Von Dr. Klaus Douglass

Was ist eigentlich das wichtigste Gremium, das es in unserer Kirche gibt? Ist es der Rat der EKD oder die Kirchenkonferenz? Sind es die Synoden, die Aufsichtsräte, die Teamtreffen und Leitungsrunden? Oder sind es die Regionalkonferenzen, die Abstimmungsrunden, die Koordinierungs- und Vernetzungstreffen, die unzähligen Fachausschüsse…? – Während ich das schreibe, merke ich, wie unfassbar viele Gremien es in unserer Kirche gibt.

Der frühere Ratsvorsitzende der EKD, Klaus Engelhardt, hat einmal gesagt: „Wir sind zu einer versessenen Kirche geworden.“ Und konstatiert, das sei nicht gerade das, was sich die Bibel unter dem „wandernden Gottesvolk“ vorstelle. In der Tat wird unsere Kirche oft mehr durch den Begriff der Sitzung gekennzeichnet als durch den der Sendung. Vor allem die letzten hundert Jahre haben uns einen exponentiellen Anstieg an Gremien beschieden. Das war keineswegs nur schlecht, sondern auch eine Begleiterscheinung von Demokratisierung, fachlicher Spezialisierung und Vernetzung.

Doch so sinnvoll und plausibel jedes einzelne Gremium auch sein mag – es ist ähnlich wie bei den Kirchengesetzen: Es sind einfach zu viele. Und es werden immer mehr. Für jedes, das man abschafft, entstehen auf unerklärliche Weise zwei neue. Ein ehrenamtlicher Mitarbeiter kommt vielleicht noch mit zwei oder drei Sitzungen pro Monat aus, eine Gemeindepfarrerin bringt es bereits locker auf 100-200 Sitzungen pro Jahr, und je höher man in der Kirchenhierarchie steigt, desto mehr werden es. Eine Menge hervorragender Leute wird so im Laufe ihres Lebens kaltgestellt.

Das ganze Geld und die ganze Kraft und die ganze Zeit, die in diese Sitzungen hineinfließen, gehen uns im Gemeindeaufbau, in der Jugend- und Altenarbeit, in der Mission und in der Diakonie verloren. An dieser Stelle müssen wir radikal streichen.

Bleibt die Frage: Welches Gremium ist das wichtigste?

Auf welches können wir auf keinen Fall verzichten? Und da spanne ich schon mal den Regenschirm auf, weil ich weiß, dass mir viele vehement widersprechen werden.

Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass der Kirchenvorstand – in manchen Landeskirchen auch Presbyterium, Gemeindekirchenrat o.ä. genannt – das wichtigste Gremium unserer Kirche ist. Und das, obwohl derzeit sehr viel unternommen wird, dieses Gremium vielerorts zu relativieren, zu entkräften oder auch ganz abzuschaffen.

Die Gründe dafür scheinen durchaus plausibel: Die allgemeine Regionalisierung scheint lokale Kirchenvorstände überflüssig zu machen. Die immer weniger werdenden Pfarrerinnen und Pfarrer können nicht in drei oder vier Kirchenvorständen gleichzeitig sitzen. Und wir finden ohnehin kaum noch Kandidatinnen und Kandidaten. Also scheint die Logik klar: „Baut die Kirchenvorstände zurück.“

Ich glaube nur, dass das genau die falsche Antwort ist. Ich sage einem Menschen, der übergewichtig und schweratmig geworden ist, ja auch nicht: „Also mach‘ keinen Sport mehr“, so logisch diese Antwort auf den ersten Blick auch klingen mag. Der richtige Ansatz wäre, zu fragen: Wie können wir dich in behutsamen, aber entschiedenen Schritten dahin führen, dass du wieder in deine Kraft kommst: dass du eben doch Sport treibst, abnimmst und wieder zu Atem kommst? Auf unsere Frage übertragen:

Wie können wir unsere Kirchenvorstände in behutsamen, aber entschiedenen Schritten dahin führen, dass sie wieder in ihre Kraft kommen?

Und auch faktisch zu dem werden, was sie ihrem Wesen nach eigentlich sind: nämlich zum wichtigsten Gremium unserer Kirche?

Woran unsere Kirchenvorstandsarbeit krankt

Wenn die Regionalisierung nicht zu einer weitgehenden geistlichen Ausdünnung in der Fläche führen soll, brauchen wir stabile, starke und auch in geistlichen Belangen kompetente ehrenamtliche Kirchenvorstände vor Ort. Im Moment krankt unsere Kirchenvorstandsarbeit an drei Faktoren:

Zum einen nimmt die Verwaltungsarbeit unserer Kirchenvorstände in exponentiellem Ausmaß zu. Das liegt zum einen an immer restriktiveren gesetzlichen Vorgaben, denen auch unsere kirchliche Arbeit unterworfen ist – Datenschutz, TÜV-Abnahmen, Förderungsanträge, Rechtswege etc. Zum anderen müssen Ehrenamtliche die schier unendlichen Verwaltungsprozesse abwickeln, die aufgrund kirchlicher Rückbaumaßnahmen und Fusionsprozesse notwendig geworden sind. Dabei hat es schon vorher nicht an Verwaltungsarbeit gefehlt.

Wundert es wirklich jemanden, dass sich immer weniger Menschen finden, die Lust haben, diese Arbeit ehrenamtlich zu tun?

Ehrenamt muss Spaß machen, Erfüllung bringen und/oder von einer Vision getragen sein.

Das zweite, woran unsere Kirchenvorstände kranken, ist die leidige, völlig un-evangelische Aufteilung zwischen geistlicher und organisatorischer Leitung, wobei erstere in der Regel den Pfarrer:innen, letztere hingegen den ehrenamtlichen Mitgliedern des Kirchenvorstandes zugeordnet wird.

Das ist das glatte Gegenteil von dem, was Martin Luther ursprünglich einmal wollte, als er 1520 seine Idee vom allgemeinen Priestertum entwickelte: Alle getauften Christinnen und Christen sind „Laien“, weil sie zum priesterlichen Volk (griechisch: „Laios“) Gottes gehören. Und alle sind „Geistliche“, weil sie an dem Auftrag partizipieren, Gott und sein Wort unter die Menschen zu bringen.

Buchstäblich jede Aufgabe im Kirchenvorstand hat eine geistliche Dimension.

Ganz gleich, ob es sich um Finanzen, Räume oder Fragen der Gottesdienstgestaltung handelt. Kirchenvorstände haben die Aufgabe, die vermeintlich weltlichen Fragen auch geistlich anzugehen. Und sie haben auch ein Mitspracherecht in all den Fragen, die in vielen Gemeinden vor allem dem Pfarrer oder der Pfarrerin, in besseren Fällen auch den anderen verkündigenden Berufen zugeordnet werden.

Geistliche Leitung heißt: dem Heiligen Geist bei allen Fragen der Gemeindeleitung ein Mitspracherecht einzuräumen. Das ist nicht die alleinige Aufgabe einiger Hauptamtlicher, sondern des gesamten Kirchenvorstands. Und es ist eine wesentliche, vielleicht sogar die wichtigste Aufgabe der kirchlichen Profis, die Ehrenamtlichen vor Ort für diese Aufgabe fit zu machen und zuzurüsten.

Eine Gemeinde kann nie über ihre Führung hinauswachsen

Das dritte Problem, das ich in unseren Kirchenvorständen ausmache, ist die in meinen Augen größte Schwachstelle, die wir als Kirche in Deutschland gerade haben. Ich spreche von dem erschreckend niedrigen „geistlichen Grundwasserspiegel“, der unsere Gemeinden derzeit kennzeichnet.

Da ist erschreckend wenig Bibelkenntnis und noch weniger Leben aus dieser wichtigsten Quelle unseres christlichen Glaubens heraus. Da ist kaum Leidenschaft und Feuer im gemeindlichen und – wie ich vermute – auch im persönlichen Gebet. Da ist wenig Auskunftsfähigkeit und Auskunftswilligkeit in Glaubensfragen. Und da ist kaum missionarische Kraft oder auch missionarischer Wille.

Fulbert Steffensky hat gesagt: „Mission ist zeigen, was man liebt.“ Wo erleben wir noch Christinnen und Christen, denen man abspürt, dass sie Gott bzw. Jesus lieben und dass sie sich von seiner Liebe zu den Menschen anstecken und beflügeln lassen? Wie gesagt: Das ist ein gesamtkirchliches Phänomen, aber es nimmt seinen Anfang bei unseren Kirchenvorständen. Denn eine Gemeinde kann nie über ihre Führung hinauswachsen.

Wenn wir die geistliche Kraft unserer Gemeinden stärken wollen, müssen wir darum bei ihren Führungsgremien den Anfang nehmen.

Und da beißt sich die Katze in den Schwanz: Dafür müssen wir sie entlasten von vielen Aufgaben, mit denen sie derzeit zugeschüttet sind.

Und Pfarrerinnen und Pfarrer sowie die anderen verkündigenden Berufe dürfen ihre erworbene Kompetenz nicht mehr allein für sich reklamieren, sondern sollten sie als anvertraute Talente ansehen, die sie teilen und vermehren sollen zur Ehre Gottes und zum Wohl unserer Gemeinden. Verwaltungsarbeit professionalisieren und pastorale Arbeit auf viele ehrenamtliche Schultern verteilen, das ist das doppelte Gebot der Stunde.

Zur Zukunft der Kirchenvorstandsarbeit in der EKD

Passend zum Thema ist soeben unsere neue Broschüre „Zur Zukunft der Kirchenvorstandsarbeit in der EKD“ fertig geworden. Sie wendet sich nicht direkt an Kirchenvorstände, sondern primär an Leitungsgremien, die die Kirchenvorstandsarbeit in den einzelnen Landeskirchen organisieren. Trotzdem lohnt sich ein Blick in die Broschüre für alle, die an der Zukunft der Kirchenvorstandsarbeit interessiert sind. Mein ganz herzlicher Dank gilt Birgit Dierks und ihren Mitstreiter:innen, die dieses ambitionierte Projekt zum Gelingen gebracht haben.