Der Faktor Bibel
Als ich noch jung war, kam mir die Bibel vor wie eine gigantische Energiequelle. Wenn ich mich morgens hinsetzte, um den jeweiligen Text des Tages zu lesen, war es, als wenn der Zündschlüssel zu einem Auto betätigt wurde. Eine Art „Stromkreis“ schloss sich. Es kam mir vor, als ob das göttliche Wort von außen mit dem Geist Gottes in meinem Inneren in Kontakt käme und beides zusammen eine ungeheure Energie entwickelte.
Immer wieder gewann ich daraus neue Kraft, um mein Leben und meinen Dienst in der Jugendarbeit zu gestalten. Ich erfuhr das, was jemand mal auf die schöne Formel gebracht hat: „Im Horchen auf die Bibel erfahren wir, dass Gott redet. Im Gehorchen auf das Wort der Bibel erfahren wir, dass Gott handelt.“
Ich bin in meinem ganzen Leben nie über diese Erfahrung hinausgekommen. In meinem persönlichen Alltag wie auch in meiner beruflichen Praxis habe ich häufig weniger, nie aber mehr Kraft und Energie bekommen, wie in den Momenten, wenn ich mich mit dieser Kraftquelle verband und den „Zündschlüssel“ drehte. Und ich frage mich, inwieweit der Faktor „Bibel“ nicht die mit Abstand meist unterschätzte Kraftressource ist, die der christliche Glaube für uns bereithält.
Ich will damit nicht abwerten, was es an anderen Energiequellen gibt. Aber ich stehe schon staunend davor, dass Christinnen und Christen auf die Frage, was ihnen in diesen schwierigen Zeiten Kraft gibt, im Wesentlichen die gleichen Antworten geben wie alle anderen auch: Familie und Freunde, Sport und Bewegung, Musikhören und der heimische Garten. Nicht auf eine einzige dieser Kraftquellen brauchen wir zu verzichten, aber gibt‘s da nicht noch mehr?
Natürlich weiß ich auch, dass Bibellesen oftmals eine mühselige, manchmal geradezu zähe Angelegenheit ist. Aber das sind Joggen und Gartenarbeit auch. Die Bibel ist kein Wunderbuch, aus dem uns Antworten und Lösungen einfach entgegenspringen, sobald wir sie öffnen.
Die derzeitige Coronakrise stellt uns vor die vielfältigsten Herausforderungen. Ängste um die eigene Gesundheit und um die unserer Lieben. Die einen bangen um ihren Job, andere hingegen werden in ihrem Beruf über die Maßen gefordert, vor allem, wenn noch das Homeschooling dazu kommt. Viele stehen vor einem finanziellen Desaster und ganz allgemein wird die Stimmung in unserer Gesellschaft immer aggressiver. Die Antwort auf all das lautet sicherlich nicht allein: „Lest mehr in der Bibel.“ Und doch frage ich mich, ob wir auf den Faktor „Bibel“ wirklich verzichten wollen, wenn es um die Frage geht, was uns als Christinnen und Christen Kraft verleiht.
Ähnliches gilt für die gewaltigen Herausforderungen, vor die wir heute als Kirche und Diakonie gestellt sind. Auch hier genügt es nicht, einfach die Bibel in die Hand zu nehmen und die Antworten von damals eins zu eins auf heute zu übertragen. Und doch gibt es auch in Hinblick auf die notwendigen Veränderungen kaum etwas, was uns mehr inspirieren könnte als die Bibel. Nicht nur als Einzelpersonen, sondern auch als christliche Organisationen können wir diese Erfahrung machen, dass das Wort von außen mit dem Heiligen Geist in unserer Mitte in Berührung kommt und jene kraftvolle Wechselwirkung entsteht, von der ich oben geredet habe.
Auch wenn ich keinem Bibelverständnis das Wort rede, demzufolge alle persönlichen, kirchlichen und globalen Probleme allein dadurch gelöst werden, dass man den passenden Bibelvers dazu findet, glaube ich doch, dass wir den Faktor „Bibel“ viel zu wenig in Betracht ziehen, wenn es um die Frage der Kraft geht, die heute so viele bewegt. Um die Kraft im eigenen Leben, um die Kraft der Kirche, die gegenwärtige Coronakrise gut zu bewältigen und die nötigen Veränderungen anzupacken.
Ja, wir mögen uns derzeit ziemlich schwach fühlen. Aber Paulus sagt, dass Gottes Kraft gerade auch in den Schwachen mächtig ist (2. Korinther 12,9). Das ist ein ungeheurer Trost. Nur müssen wir diese Kraft auch in unsere Schwachheit hineinlassen. Sonst ist und bleibt Schwachheit einfach das, was sie ist: eine Art von Erschöpfung und Kraftlosigkeit, die keineswegs heilig, sondern eher heillos ist.