Der Klimakrise seelsorglich begegnen

Von Walter Lechner

Interview

der Erzdiözese Freiburg mit Walter Lechner, Referent für Sozialraumorientierung in Diakonie und Kirche (midi)

EF: Die Kirchen setzen sich aktiv in der Bildung, in der Unterstützung konkreter Projekte, durch spirituelle Impulse für den Erhalt der Schöpfung ein. Ergeben sich dabei auch (neue) seelsorgerliche Aufgabenfelder? Wo liegen diese?

WL: Die ökologische Krise ist akut. Mit Erderhitzung und Artensterben sind wir mit einer Katastrophe globalen Ausmaßes konfrontiert. Daher ist es richtig, dass die Kirchen zurzeit ein großes Augenmerk auf die ganz praktischen Maßnahmen für Klimagerechtigkeit sowie auf die entsprechenden geistlichen Grundlagen für solches Engagement legen. Denn die Zerstörung der Schöpfung ist Rebellion gegen Gott und fordert uns als Menschen in der Nachfolge Jesu heraus. Und der Kampf um jedes Zehntelgrad zählt!

Und gleichzeitig wächst das Bewusstsein: Es wird in jedem Fall in den nächsten Jahrzehnten schlimmer; wir können lediglich das Ausmaß beschränken. Dieses Wissen mag erschrecken; es ermöglicht uns aber auch, schon jetzt zu überlegen, welche Kirche wir in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren sein und wie wir in einer potenziell katastrophischeren Welt sprach- und handlungsfähig wirken wollen.

Dazu gehört essenziell, den seelsorglichen Herausforderungen der Klimakrise angemessen zu begegnen. Schon heute können wir eine deutliche Zunahme von psychischen Belastungen – nicht nur bei jungen Menschen – registrieren, die von der beginnenden Klimakatastrophe herrühren oder zumindest mitverursacht werden und sich in starken Gefühlen wie Angst, Schuld- und Schamempfinden, Trauer, Wut, Resignation und Verzweiflung sowie existentiellen Sinnfragen äußern.

Die Zerstörung der Schöpfung ist Rebellion gegen Gott und fordert uns als Menschen in der Nachfolge Jesu heraus.

EF: Beschreiben Sie eine solche seelsorgerliche Herausforderung konkret an einem Beispiel!

WL: Laut einer globalen Umfrage in zehn Ländern nehmen 75 % der Kinder und Jugendlichen angesichts des Klimawandels die Zukunft als furchteinflößend wahr. 56 % sind der Meinung, dass die Menschheit dem Untergang geweiht sei, und 42 % zweifeln, ob sie überhaupt einmal Kinder bekommen sollten. Praktisch bedeutet das:

Schon heute gehören, statistisch gesehen, zu jeder kirchlichen Kinder- und Jugendgruppe Teilnehmende, die sehr konkrete Klimaangst empfinden. Und zukünftig müssen wir bei jedem Taufgespräch damit rechnen, dass mindestens ein Elternteil jedenfalls zeitweise in Zweifel gezogen hat, ob es überhaupt verantwortbar ist, ein Kind in die Welt zu setzen.

Das sind sehr konkrete seelsorgliche Bedarfe, für die die verantwortlichen Verkündigungsmitarbeitenden sensibilisiert und ausgebildet sein müssen.

EF: Erleben Sie bei diesen Fragen eine ökumenische oder interreligiöse Vernetzung?

WL: Im internationalen Bereich wie auch in Deutschland erlebe ich hier eine große ökumenische Selbstverständlichkeit und interreligiöse Offenheit.

Im Juni 2024 haben die Akademie des Versicherers im Raum der Kirchen und wir als midi eine Fachtagung „Der Klimakrise seelsorglich begegnen“ veranstaltet und von vornherein ökumenisch konzipiert. Sowohl die Referierenden als auch die Teilnehmenden kamen aus unterschiedlichen konfessionellen und auch aus nichtreligiösen Hintergründen.

Auch wenn es zwischen den Konfessionen unterschiedliche Akzentuierungen in den Seelsorgeverständnissen geben mag, stehen wir hier vor einer gemeinsamen Herausforderung, bei der wir miteinander lernen und agieren sollten.

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Playlist mit den Vorträgen der Fachtagung „Der Klimakrise seelsorglich begegnen“

Auf unserer Tagung berichtete der finnische lutherische Theologe Panu Pihkala von Ritualen als möglicher Antwort auf Klimakummer (climate anxiety) und machte deutlich, dass sich hier gemeinsame Interessen auch mit nichtchristlichen spirituellen oder auch künstlerischen Bewegungen ergeben.

Beim Vortrag der Diplompsychologin Constance Nennewitz wurde die große Schnittmenge zwischen den Anliegen der (weltlich ausgerichteten) Psychologists und Psychotherapists for Future und den Anforderungen an eine klimasensible Seelsorge der Kirchen spürbar. Wir können hier zukünftig noch stärker mit unwahrscheinlichen Allianzen (unlikely alliances) rechnen und sollten dafür offen sein.

EF: Welche Herausforderungen ergeben sich aus den sich verändernden Zukunftserwartungen durch Klimaerhitzung und Artensterben?

WL: Leben ist nicht mehr in der gleichen Weise planbar wie in den letzten Generationen. Die aus der Fortschritts- und Wachstumslogik der Jahrzehnte nach 1945 resultierende und durchaus begründete Hoffnung, dass es grundsätzlich aufwärts geht, morgen mehr da ist als gestern und mir die Welt mit unendlichen Möglichkeiten offensteht, ist so nicht mehr gegeben.

Der Handlungskorridor wird enger, die gesellschaftliche Entwicklung und damit auch persönliche Perspektiven stoßen an klare Grenzen. Die Zukunft wird tendenziell krisenhafter, beschränkter, (arten)ärmer und konfliktreicher, bis hin zur realen Option eines Kollapses von Demokratie und Gesellschaft.

Neben Klimaaktivist:innen und anderen Aktiven, die sich schon seit längerem für Klimagerechtigkeit engagieren und mit Vergeblichkeitsgefühlen und Burnout-Gefahr konfrontiert sind, sollte kirchliche Seelsorge darüber hinaus auch die breiteren Teile der Bevölkerung im Blick haben, die diese Aussichten beschäftigen, triggern und überfordern und die psychisch ganz unterschiedlich reagieren – mit Trauer, Aktionismus und Resignation bis hin zu psychotischen Zuständen, aber auch mit Verdrängung, Abwehr und Aggressivität.

Letzteres wird durch die notwendige rasche Transformation der Gesellschaft zukünftig vermutlich noch verstärkt. Jedenfalls so, wie er gegenwärtig politisch gestaltet wird, belastet der Umbau hin zur Klimaneutralität gerade finanziell schwache Gruppen unverhältnismäßig stark. Das wiederum führt zu sozialen Unwuchten und Polarisierungen und damit zu zusätzlichem psychischen Druck.

Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen: Die Klimakatastrophe fordert schon heute weltweit sehr realen Tribut und gefährdet oder zerstört die Heimat und Lebensgrundlagen von Millionen. Wem das Ackerland weggespült wird, wessen Angehörige aufgrund von klimabedingten Krankheiten sterben, wer aufgrund von Konflikten, die die Klimakrise anfacht, seine Heimat verlassen muss, leidet nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Durch die zunehmende Migration sind Menschen mit solchen sehr existentiellen Themen und Schicksalen auch hier in Deutschland immer stärker präsent und damit potenzielle Adressat:innen kirchlicher Seelsorge.

In all diesen Zusammenhängen gilt es, aufmerksam und solidarisch zu begleiten und die Hoffnungsperspektive des Glaubens an Jesus Christus lebensförderlich einzuspielen.

EF: Zeigt sich hier ein neuer Schwerpunkt der zukünftigen Seelsorge?

WL: International ist das definitiv so. Gerade im englischsprachigen Raum (Großbritannien, USA, Australien), aber auch etwa in Finnland passiert einiges im Themenfeld „climate change and pastoral care“. Und im globalen Süden ist das Seelsorgeverständnis ohnehin häufig breiter als unser mitteleuropäisches, das Seelsorge nach wie vor meist stark individualisiert, privatisiert und psychisch-verinnerlicht denkt. Wo Menschen, besonders Ärmere, tagtäglich die Auswirkungen des Klimawandels an Leib und Seele erfahren, wird es schwer, aktives solidarisches Handeln, befreiende Verkündigung des Evangeliums und seelsorgliche Begleitung im engeren Sinn voneinander zu trennen, wenn Kirche ihren Auftrag ernst nehmen will.

Wo Menschen tagtäglich die Auswirkungen des Klimawandels an Leib und Seele erfahren, wird es schwer, aktives solidarisches Handeln, befreiende Verkündigung des Evangeliums und seelsorgliche Begleitung im engeren Sinn voneinander zu trennen.

Im deutschsprachigen Raum steht die Behandlung des Themas Klima und Seelsorge nach meinem Empfinden noch verhältnismäßig am Anfang. Aber auch hier wird dieser Schwerpunkt kommen, und es liegt an den Kirchen, ob sie ihn aktiv setzen oder nur nachklappend reagieren. Sie können hier jedenfalls viel von den Erkenntnissen und Handlungsempfehlungen der Klimapsychologie lernen, die sich in den letzten Jahren etabliert hat und deren Vertreter:innen, etwa die Psychologists und Psychotherapists for Future, mit hoher Professionalität agieren.

Gleichzeitig wird es wichtig sein, dass wir nicht einfach nur „Klimapsychologie light“ bieten wollen, sondern die besondere Rolle, die Begrenzungen, aber auch die einmaligen Ressourcen einer kirchlichen klimasensiblen Seelsorge, die auf dem Evangelium von Jesus Christus und der Hoffnung auf das Reich Gottes basiert, zur Geltung zu bringen.

Diese Hoffnung ist eben mehr als der „billige Optimismus“ (Gregor Taxacher), dass es „doch nicht so schlimm wird“, sondern bewährt sich auch in der Katastrophe und weiß von Gottes Neumachen mitten in und nach der Zerstörung, ist also „apokalyptische Hoffnung“ im ursprünglichen biblischen Wortsinn.

EF: Sind diese Themenfelder in der Ausbildung der Seelsorger schon genügend abgebildet?

WL: Hier maße ich mir nicht an, einen umfassenden Einblick zu haben. Aber mein Eindruck ist, dass noch sehr viel Luft nach oben ist. Mir sind zumindest keine Seelsorgeaus- und -weiterbildungen in Deutschland bekannt, in denen klimasensible Seelsorge explizit behandelt wird.

Eine Aufgabe der nächsten Jahre wird definitiv sein, angehende wie auch aktive Seelsorger:innen für die wachsende Bedeutung des Klimathemas und insgesamt ökologiebezogener Gefühle zu sensibilisieren. Denn nur wenn ich weiß, dass ein Thema eine Rolle spielen könnte, nehme ich es, wenn es mir begegnet, mit höherer Wahrscheinlichkeit als relevant wahr und ernst.

Und gleichzeitig erfordert klimasensible Seelsorge neben dem notwendigen Faktenwissen und einem einfühlsamen Verstehen-Wollen auch eine Klärung der eigenen Haltung. Damit rückt die Person der Seelsorgerin bzw. des Seelsorgers besonders in den Fokus. Stark vereinfacht gesagt: Es macht einen Unterschied, ob die Seelsorgerin während des Gesprächs bei gekipptem Fenster die Heizung voll aufgedreht hat und nach dem Gespräch in den SUV steigt oder ob sie sich vegetarisch ernährt und selbst am Klimastreik teilnimmt.

Das Klimathema bietet die Chance, Seelsorge aus ihrer individuell-innerlichen Engführung zu befreien und ihre prophetisch-diakonische Dimension wieder stark zu machen. Natürlich können Persönlichkeitseigenschaften und Dispositionen eher dazu führen, dass Menschen auf bestimmte Themen seelisch stärker reagieren als andere. Aber es gibt eine Wechselwirkung zwischen individuellem Empfinden und politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Wenn junge Leute aufgrund von Klimaprognosen panisch oder depressiv werden, wenn die Zahl der Hitzetoten von Jahr zu Jahr steigt oder wenn immer mehr Menschen wie im Ahrtal durch extremwetterbedingte Verluste von Familienmitgliedern sowie Hab und Gut traumatisiert werden, sind das nicht bloß private Einzelfälle, die seelsorgerliche Begleitung benötigen, sondern systemisch bedingte Nöte, die eine entsprechende seelsorgliche Kompetenz erfordern.

Ein entsprechendes multidimensionales Seelsorgeverständnis wäre jedenfalls für alle Beteiligten ein Gewinn: für die Klient:innen ohne Zweifel, aber auch für die Kirchen, die ihren Auftrag noch einmal neu und ganzheitlicher entdecken könnten, und für die Gesellschaft als Ganzes.