„Begabte, nicht betreute Gemeinde!“

Von Svenja Neumann

Interview

mit Prof. Dr. Michael Herbst, emeritierter Professor für Praktische Theologie und zuletzt Direktor des Institutes zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) an der Universität Greifswald

Hallo Michael Herbst! Wie sieht die Kirche der Zukunft aus?

Herbst: Eine seriöse Antwort kann man geben: Anders. Wir erleben gerade Um- und Abbrüche – in sich beschleunigendem Tempo. Lang Vertrautes verschwindet. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Daron Acemoğlu spricht im Blick auf unsere Gesellschaft von den »Geburtsschmerzen eines neuen Modells« (FAZ, 10.12.24, 18). Das trifft es: Schmerzen, aber Geburtsschmerzen. Weh tut es trotzdem.

Wenn in Zukunft die Hauptamtlichen fehlen (und das spüren wir ja jetzt schon an vielen Stellen) – sollen es dann die Ehrenamtlichen richten?

Herbst: Nein, so einfach geht es nicht. Wir haben in unseren Studien immer mal gehofft, wir träfen auf das innovative Modell einer von Hauptamtlichen gänzlich unabhängigen Kirche. Wir wurden regelmäßig enttäuscht. Die Aufgaben der Koordination, der theologischen Leitung und der Begleitung sind nicht einfach auf Ehrenamtliche abzuschieben, schon gar nicht per Appell von heute auf morgen. Auch Ehrenamtliche können überfordert werden, und als ›Notnagel‹ angesichts unserer Nachwuchs-Krise müssten sie auch Einspruch erheben.

Es ist komplexer: Weniger Hauptberufliche müssen die Freiheit bekommen, vorrangig geistlich-theologisch die Gemeinden zu orientieren und »die Heiligen zuzurüsten zum Dienst« (Eph 4,10f). Dazu brauchen sie Entlastung von anderem, z.B. der Verwaltung und Bürokratie. Und Gemeinden als ganze sollen lernen, mit – eher regionaler – hauptberuflicher Unterstützung ihre Gottesdienste, ihr Gemeinschaftsleben und ihren Einsatz für andere selbst in die Hand zu nehmen, wo immer sich Bereitschaft und Lebenskraft dafür findet. Was wirklich tragisch ist, ist die Abhängigkeit der Gemeinden von der vollzeitlichen ›Versorgung‹.

Wie kann ich ehrenamtlich Engagierte begeistern und wie können sie die Erfahrung von Selbstwirksamkeit machen?

Herbst: Meine prägende Lebenserfahrung war, dass wir als junge Erwachsene im CVJM Vertrauen spürten und immer ein kleines Stück über unsere Komfortzone hinaus herausgefordert wurden. Dabei wurden wir auch nicht allein gelassen. Wir konnten etwas probieren – und hatten Erfahrenere an der Seite, um uns beraten zu lassen. Diese Erfahrung als 18, 20-Jähriger hat mich bis heute geprägt.

Jetzt erlebe ich es wieder als Ehrenamtlicher in unserer Kirchengemeinde: Die zieht Menschen an, die spüren: Hier kann ich mich einbringen, meine Grenzen werden respektiert, aber eben auch meine Begabungen und meine Lebenserfahrung. Dazu kommt, dass Menschen aktiv angesprochen werden. Es ist ein feiner Unterschied zwischen dem ›Notnagel‹ (s.o.) und der Aufbruchsstimmung: »Hej, wir haben nur noch eine halbe Pfarrstelle, aber welche Chance ist das für uns, jetzt das zu tun, was immer schon das Bessere gewesen wäre: begabte, nicht betreute Gemeinde!«

Was würden Sie Gemeinden raten, die sich jetzt für die Zukunft fit machen wollen?

Herbst: Das ist eine sehr große Frage. Pauschale Antworten sind immer riskant, aber gut:

1. Nutzt jede Gelegenheit, miteinander gemeinschaftlich das Evangelium zu hören, zu teilen und zu feiern!

2. Überlegt miteinander, was das Leben Eurer Gemeinde ausmacht: Wie wollt Ihr Gottesdienst feiern? Wie lebt Ihr christliche Gemeinschaft? Wie wollt Ihr in Eurem Sozialraum den Menschen dienen? Wie ladet Ihr andere zum Glauben ein (von Kindern und Jugendlichen über die vom Evangelium Unerreichten bis hin zu denen, die als Gäste und seltene Besucher hinzukommen)?

3. Investiert in die geistliche und praktische Bildung der Gemeinde: Wir brauchen Bildung für das Leben in der Nachfolge Christi, für die Mitwirkung im Aufbau der Gemeinde, für ehrenamtliche Führungskräfte.

4. Macht Euch für Eure Weise, Gottes Liebe zu feiern, unabhängig von der Frage, ob Hauptberufliche da sind und Zeit haben.

5. Bleibt örtliche Gemeinschaft im Glauben, Lieben und Hoffen! UND: Arbeitet mit anderen Gemeinden in der Region zusammen, so dass niemand alles tun muss, viele manches zusammen tun und alle zusammen in der Region vieles für unterschiedliche Menschen anbieten können.

Wo sehen Sie die Stärken einer kleiner werdenden Kirche?

Herbst: So schmerzhaft es ist, dass viele sich aus den letzten, wenigstens gelegentlichen Bindungen an christliche Gemeinschaft lösen (und viele gar nicht erst solche Bindungen kennenlernen), so deutlich ist auch: Wir werden eine kleinere Kirche, aber eine Kirche derer sein, die bewusst wählen, dass sie christlich glauben und in irgendeiner Weise am Leben der Kirche aktiv teilhaben wollen.

Minderheit ist durchaus anstrengend (auch für Glaubensüberzeugungen, die nur wenige teilen), aber eine profiliertere Kirche der Überzeugten kann ein Jungbrunnen sein – wenn Minderheit nicht Rückzug bedeutet. Rückzug wäre ein Ende auf Raten. Minderheit kann sein, was die Anglikanische Kirche sich als Motto gegeben hat: »A church for the whole nation which is in Jesus Christ centred, and shaped by, the five marks of mission. A church that is simpler, humbler, bolder.« Also: Auf Christus ausgerichtet, missionarisch in einem ganzheitlichen Sinn. Und: Einfacher, demütiger, tapferer.

Bei allem, was die Kirche derzeit so erlebt: Haben Sie trotzdem noch Hoffnung?

Herbst: Zu schnell kann ich jetzt nicht das erhoffte ›ja, natürlich!‹ sagen. Denn Kirchen als menschliche Gebilde können sterben. Wir müssen schon begreifen, dass wir in einer kritischen Lage sind. Der Leib Christi auf Erden wird nicht sterben; er wird sich hier und dort immer wieder neu bilden und frisch aufstellen. Die Chance, dass unsere Kirche dabei ist, ist uns gegeben. Wir gefährden sie durch Selbstsicherheit ebenso wie durch Verzweiflung. Meine Hoffnung ist auch nicht, dass wundersamerweise alles wieder so wird wie früher. Wir ergreifen unsere Chance, indem wir uns um das Christus-Evangelium sammeln, um Erneuerung beten, das Vitale schützen, das Überlebte und Überfordernde ablegen, Neues wagen und wieder bei Christus einkehren und auf ihn hoffen: Wohin ruft er uns, und was ist an seiner Seite zu tun?

Vielen Dank für das Gespräch!