Wie Jesus Menschen verband

Von Dr. Klaus Douglass

Ich frage mich manchmal, wie Jesus das gemacht hat. Seine zwölf Jünger waren in sozialer, religiöser und politischer Hinsicht eine hochgradig diverse Gruppe. Zu seinen Anhängerinnen und Anhängern gehörten Arme und Reiche. Es gab Menschen, die die verhasste Besatzungsmacht der Römer mit Waffen bekämpften (z.B. Simon, den Zeloten), und solche, die mit den Römern kollaborierten (etwa Levi, der Zöllner).

Die Frage beschäftigt mich schon länger, aber ganz besonders in diesen Zeiten, in denen sich die großen Streitfragen unserer Gesellschaft wie ein Mehltau auch über Kirche und Diakonie zu legen drohen. Streit gab es in der Kirche zwar schon immer. Doch seit ein paar Jahren haben die Themen eine vorher nicht gekannte Dynamik entwickelt.

Das Ganze fing an mit Corona.

Meine Güte, ist das wirklich erst vier Jahre her, dass sich Kirchen­vorstände daran spalteten, weil die einen sich nur mit Maske, die anderen hingegen nur ohne Maske treffen wollten und die damit verbundene Impfdebatte mit nahezu apokalyptischen Argumenten geführt wurde? Dann kamen der Ukraine-Krieg und die damit verbundene Streitfrage, wie stark Deutschland sich dort involvieren soll. Parallel gewann die Auseinandersetzung über den angemessenen Umgang mit dem Klimawandel eine neue Brisanz. Und spätestens seit dem brutalen Terrorüberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem daraufhin erfolgten Einmarsch israelischer Truppen in Gaza sind auch hier die Gemüter hochgradig erhitzt.

Wie hat Jesus das nur hinbekommen?

Die Auseinandersetzungen seiner Zeit waren nicht minder kontrovers wie heute. Da gab es nicht nur den genannten Konflikt zwischen Römern und Juden. Im Land rangen mindestens vier große Gruppierungen um die religiös-politische Vorherrschaft. Und die sozialen Unterschiede und Spannungen waren enorm: Rund 80 Prozent der Menschen waren arm bis bitter arm, knapp 20 Prozent kamen mehr oder minder zurecht und ein bis zwei Prozent lebten in Saus und Braus.

Zwar stellte sich Jesus klar auf die Seite der Armen und Zu-kurz-Gekommenen. Aber er ließ sich nicht hinreißen, zu einem Kampf gegen Menschen auf der anderen Seite aufzurufen. Er sah alle Menschen als Kinder Gottes, als Brüder und Schwestern an. Und seine Jüngerinnen und Jünger übernahmen das für sich, obwohl wahrscheinlich niemand von den damaligen Streitfragen unberührt war.

Wie Jesus Menschen verband

Jesus übte zweifellos eine hohe Faszination auf die Menschen seiner Zeit aus. Das spürt man bis heute. Er bot ihnen Trost und Orientierung im Gewirr der vielen Stimmen seiner Zeit. Seine Jüngerinnen und Jünger liebten ihn dafür. Doch bei seinen Gegnern war er entsprechend gefürchtet. Gerade, weil er sich auf keine der sich damals anbietenden Seiten schlug, wurde er von allen gehasst, die ihre politische oder religiöse Ansicht für die einzig richtige hielten. Für seine Gegner war Jesus gerade aufgrund seines Charismas und seiner Autorität eine große Gefahr: weil er sie nicht in den Dienst ihrer Sache stellte. So brachten sie ihn schließlich in seltener Einigkeit um.

Eine wichtige Vorgehensweise Jesu lag darin, dass er Menschen eine Tisch- und Weggemeinschaft anbot.

Wenn du mit anderen – und auch andersdenkenden – Menschen ein Stück Wegs gemeinsam gehst, mit ihnen gemeinsame Erfahrungen machst und mit ihnen isst und trinkst, ändert sich deine Einstellung zu ihnen und es wächst etwas Gemeinsames.

Die Weg- und Tischgemeinschaften Jesu waren in sozialer, politischer und religiöser Hinsicht für die damalige Zeit nahezu skandalös. Auf seinen Wegen begleiteten ihn im Schnitt 70-120 Leute. Menschen, die in Vielem alles andere als gleichgesinnt waren. Unterwegs war Jesus zu Gast bei Armen und Reichen, bei Männern und Frauen, bei Zöllnern und Pharisäern. Auch wenn Jesus selbst zu Tisch lud, zog er keine Grenze.

Er gab Leuten keinen Raum, ihre jeweiligen Ideologien vorzutragen, sondern er setzte selbst die Themen und ließ sie als Mensch unter Menschen Teil der von ihm gegründeten Gemeinschaft sein.

Jesus gab den Menschen ein größeres gemeinsames Drittes: Die Botschaft vom Reich Gottes.

Vor allem aber gab Jesus den Menschen ein „GGD“, wie ich das in Anlehnung an alte, mathematische Zeiten einmal nennen möchte: ein größeres gemeinsames Drittes. Einen Gegenstand bzw. ein Thema, das für ihn größer und wichtiger war als die Themen, über die die Menschen seinerzeit damals stritten. Dieses „größere gemeinsame Dritte“ war seine Botschaft vom Reich Gottes. Und er wehrte allen Versuchen, dieses Reich Gottes mit jenen Reichen zu identifizieren, die die Menschen seiner Zeit gerne ausgerufen hätten.

Das ist für mich eine Kernfrage auch unserer Zeit: Haben wir als Kirche und Diakonie solch ein Thema bzw. einen Gegenstand, der über all die zweifellos wichtigen Streitfragen unserer Zeit hinausgeht? Können wir die Menschen unserer Zeit derart auf Gott und seine Königsherrschaft ansprechen, dass sie darüber beginnen, die alten Gräben zu überwinden und im vormaligen Gegner und Feind den Bruder oder die Schwester zu sehen?

#VerständigungsOrte

Ich bin davon überzeugt: Wenn wir die vorhandenen Gräben und Streitereien überwinden wollen, brauchen wir solch ein „größeres, gemeinsames Drittes“. Dieses „GGD“ muss nicht unbedingt religiös gefüllt werden. Religion ist teilweise ebenfalls ein Streitpunkt. Vor allem kann sie heute nicht mehr bei allen vorausgesetzt werden.

Es kann auch die freiheitlich-demokratische Grundordnung sein, auf die man sich verständigt, der gemeinsame Glaube an das Gute im Menschen oder ein anderes gemeinsames Verständnis der condition humaine. Aber wo Fronten so verhärtet sind, wie sie es heute teilweise sind, braucht es etwas, was über diese Fragen hinausgeht und worauf man sich gemeinsam einigen und von wo aus man gemeinsam weiterdenken und -handeln kann. Verständigung geht nicht ohne ein wie auch immer geartetes „GGD“.

Warum ich das schreibe: Am 10. Juni haben die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Diakonie Deutschland zusammen mit midi die Initiative #VerständigungsOrte ins Leben gerufen.

Unser gemeinsames Ziel ist es, Menschen mit unterschiedlichen Meinungen und Auffassungen zusammenzubringen. Das ist ein riskantes Unterfangen: Solche Gespräche können missbraucht werden, und sie können scheitern. Aber wir finden: Solche Orte der Verständigung sind heute dringend notwendig – nicht nur, aber unbedingt auch in kirchlich-diakonischen Räumen.

Dazu gibt es bereits viele hoffnungsvolle Ansätze. Schauen Sie sich das einfach mal auf unserer Webseite an, und überlegen Sie, ob und wie vielleicht auch Sie einen Beitrag leisten können, Streit und Differenzen bei Ihnen am Ort zu überwinden. Den Versuch ist es wert, wie ich finde.


PS: Lust auf meinen Job?

Wenn Sie Interesse hätten, gemeinsam mit unserem hoch diversen und hoch kompetenten Team an der Zukunft von Kirche und Diakonie zu arbeiten: Die Stelle ist aktuell ausgeschrieben und ab 1. Mai 2025 frei.